Die unterzeichnenden Organisationen (1) fordern die Mitglieder des Europäischen Parlaments dazu auf, die Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Vietnam (2), über die am 11. Februar 2020 abgestimmt wird, nicht zu ratifizieren. Es handelt sich um die erste Ratifizierungsabstimmung über Handels- und Investitionsabkommen des neuen Europäischen Parlaments. Die Abkommen wurden von der Europäischen Kommission aufgrund zuvor erteilter Mandate verhandelt und am 30. Juni 2019 in Hanoi unterzeichnet.

Die Europäische Kommission präsentiert die Abkommen als Mittel für nachhaltige Entwicklung und die Gewährleistung eines hohen Arbeits- und Umweltschutzes. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Die Abkommen zwischen der EU und Vietnam befassen sich nicht mit den drängenden aktuellen Aufgaben der EU und Vietnams: Reduzierung der Ungleichheit, Förderung nachhaltiger Entwicklung und Klimaschutz. Sie sind unvereinbar mit einem „Green Deal“, der dem Umweltschutz tatsächlich Vorrang einräumen würde. Am 15. Januar 2020 stimmte das Europäische Parlament für eine Resolution, in der festgelegt ist, dass „alle internationalen Handels- und Investitionsabkommen starke, bindende und durchsetzbare Kapitel über nachhaltige Entwicklung – einschließlich Klima- und Umweltschutz – enthalten, die in vollem Einklang mit den internationalen Verpflichtungen, insbesondere dem Übereinkommen von Paris […] stehen“. Auf die Abkommen zwischen der EU und Vietnam trifft das nicht zu.

Die Europäische Kommission beschloss, den Text des ursprünglichen Abkommens in zwei Teile aufzuspalten, einen Handels- und einen Investitionsteil. Damit lässt sich vermeiden, dass beide Teile demselben Ratizifizierungsprozess unterworfen werden. Die Kommission will nicht riskieren, dass der Handelsteil in den nationalen Ratifizierungsverfahren möglicherweise abgelehnt wird, und strebt eine rasche Inkraftsetzung an.

Der Handelsteil solcher Abkommen fällt in die alleinige Zuständigkeit der EU und erfordert lediglich eine Ratifizierung durch das Europäische Parlament.

  • Laut Europäischer Kommission beseitigen die Abkommen 99 Prozent der Zölle auf zwischen der EU und Vietnam gehandelte Waren. Solche Zahlen sagen nichts über Kriterien wie Nachhaltigkeit oder Menschenrechte aus.
  • Das Abkommen zwischen der EU und Vietnam enthält keine Klausel, die gewährleistet, dass Menschenrechte, Umwelt- und Klimaabkommen Vorrang vor Handels- und Investitionsbestimmungen haben.
  • Den Kapiteln über Handel und Nachhaltigkeit fehlen jegliche Aussagen über die Erarbeitung notwendiger und anspruchsvoller gemeinsamer Standards sowie konkrete bindende Bestimmungen über die Einhaltung und Durchsetzung internationaler Verpflichtungen in den Bereichen Klima, Umwelt, Arbeits- und Menschenrechte. Diese nicht bindenden und nicht durchsetzbaren Kapitel sind vom Streitschlichtungsmechanismus der Abkommen ausgeschlossen.
  • In puncto Einhaltung der Menschenrechte stellen die Kapitel über den Schutz geistigen Eigentums eine unmittelbare Bedrohung des Zugangs zu erschwinglichen Generika dar. Den Kapiteln mangelt es an Regulierungen des Markts für kommerzielles Saatgut unter Beachtung des übergeordneten Rechts auf Nahrung und auskömmliche Lebensgrundlagen kleiner Erzeuger/-innen und bedrohter landwirtschaftlicher Kooperativen.
  • Die Abkommen enthalten keine angemessene Regulierung von Kapitalflüssen zur Vermeidung von Belastungen durch Finanzinstabilität.
  • Die Abkommen sehen keine direkten, bindenden und durchsetzbaren Pflichten ausländischer Investoren zur Einhaltung einschlägiger und anerkannter internationaler menschen- und sozialrechtlicher Standards oder zu Klima- und Umweltschutzmaßnahmen vor.
  • Die Abkommen sehen keine regelmäßige Bewertung ihrer Auswirkungen auf Menschenrechte sowie Klima und Umwelt vor. Insbesondere fehlt ihnen eine „Revisionsklausel“ zur Überprüfung (einzelner Teile) der Abkommen nach ihrer Ratifizierung und Inkraftsetzung auf der Gundlage regelmäßiger Untersuchungen ihrer Auswirkungen auf nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte.
  • Das Vorsorgeprinzip wird im Handelsabkommen in Artikel 13.11 des nicht bindenden Kapitels über nachhaltige Entwicklung erwähnt, jedoch nicht im Kapitel über Gesundheit und Pflanzenschutz. Das Abkommen gewährleistet keine volle und umfassende Anwendung des Vorsorgeprinzips.

Der Investitionsteil der Abkommen wird der geteilten Zuständigkeit zugeordnet und muss daher die entsprechenden Ratizifizierungprozesse in allen Mitgliedsstaaten durchlaufen.

  • Der Investitionsteil enthält einen weitreichenden Investitionsschutz und sehr weite Definitionen dessen, was eine erfasste Investition bedeutet, einschließlich Regelungen über Kapitalbeteiligungen, Schuldverschreibungen, Goodwill und Rechte des geistigen Eigentums, – alles durchsetzbar mittels eines Investor-Staat-Schiedsverfahrens (ISDS). Solch weitgehende Schutzmaßnahmen werden vorgesehen, obwohl die Behauptung, Investitionsschutz inklusive ISDS zöge ausländische Direktinvestitionen (ADI) an, nicht haltbar ist: Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass Investitionsschutz und ISDS für Investoren, wenn überhaupt, sehr selten der ausschlaggebende Faktor bei einer Investitionsentscheidung sind. Ein solcher Schutz wird allenthalben vorgesehen, auch wenn nicht alle ADI zwingend zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Untersuchungen besagen, dass ADI, von positiven Effekten abgesehen, auch negative Auswirkungen haben können und heimische Unternehmenen verdrängen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse schaffen oder Arbeitsplätze vernichten, Einkommensungleicheit verstärken, Steuerflucht und -vermeidung erleichtern und zur Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt beitragen. Das zeigt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, angemessene Verfahren und Regelungen dafür zu schaffen, ADI für eine nachhaltige Entwicklung nutzbar zu machen.
  • Statt Vergünstigungen weitgehend auszuschließen, schützen diese Kapitel nach wie vor jedwede ADI, ungeachtet der Art der Investition, des Verhaltens des Investors oder der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Investition. Beispielsweise gibt es im Investitionsabkommen zwischen EU und Vietnam kein „Nachhaltigkeitskapitel“.
  • Der Investitionsteil stellt keinen Fortschritt gegenüber früheren Abkommen dar, sondern ist ein weiterer Schritt in die falsche Richtung: Die ausländischen Investoren darin gewährten Rechte übersteigen bei weitem die in Investitionskapiteln anderer Abkommen (zum Beispiel CETA) enthaltenen, und einige der in das CETA eingefügten Sicherungen fehlen im vorgesehenen Investitionsabkommen mit Vietnam. (3)
  • Das Abkommen sieht vor, dass die Vertragsparteien an Verhandlungen über die Einführung einer multilateralen Schiedsstelle für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten mitwirken. Während solche Abkommen von der Öffentlichkeit entschieden abgelehnt werden, wird ein multilateraler Investitionsgerichtshof ein System für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten verfestigen, das es transnationalen Unternehmen ermöglicht, unangemessenen Einfluss auf die staatliche Politik auszuüben. Wollen wir einer geringen Zahl von Unternehmen und Investoren, die den Weltmarkt dominieren, noch mehr Macht verleihen? Über 847.000 Menschen in Europa haben eine Petition unterzeichnet, mit der die Mitglieder des Europäischen Parlaments aufgefordert werden, die Ausbreitung von Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS usw.) zu stoppen (siehe zum Beispiel https://stopisds.org/).

Wir sind tief besorgt über die Menschen- und Arbeitsrechtslage in Vietnam. Während Vietnam kürzlich das Übereinkommen über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen (Nr. 98) ratifiziert hat, steht die Ratifizierung von zwei der acht Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) noch aus; es handelt sich um das Übereinkommen über Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechts (Nr. 87) und das Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit (Nr. 105). Obwohl Vietnam die Absicht bekundete, Letzteres im Jahr 2020 und das Übereinkommen 87 im Jahr 2023 zu ratifizieren, gibt es dafür keine Garantie.

In seiner Resolution vom 14. Dezember 2017 verweist das Europäische Parlament auf „die Verschlechterung der Lage der bürgerlichen und politischen Rechte in Vietnam“. Die von einer einzigen Partei kontrollierte Regierung Vietnams bietet keine ausreichenden Garantien in Bezug auf die Achtung der bürgerlichen Freiheiten (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit usw.). Polizeiliche und staatliche Repression betreffen vor allem Menschenrechtler/-innen, Umweltaktivisten und -aktivistinnen und Regimekritiker/-innen. Laut Human Rights Watch wenden Polizeikräfte Folter an, während es der Justiz in erschreckendem Maß an Unabhängigkeit mangelt. Kleinbauern und -bäuerinnen werden ihres Lands beraubt und Arbeiter/-innen erleben häufig Gewalt, wenn sie auf die Achtung ihrer Rechte drängen. Daher hat Human Rights Watch das Europäische Parlament aufgefordert, die Ratifizierung des Abkommens zwischen EU und Vietnam zu verschieben.

Unter solchen Umständen Handels- und Investitionsabkommen abzuschließen, steht im Widerspruch zu den Grundsätzen der EU. Können wir im Jahr 2020 noch Handelsabkommen mit Ländern ratifizieren, in denen wesentliche Menschen- und Arbeitsrechte sowie Grundfreiheiten missachtet werden? Wie kann das Europäische Parlament Handelsabkommen ratifizieren, die zur Ausweitung des weltweiten Handels und zum Anstieg der Treibhausgasemissionen beitragen, während die Europäische Kommission einen „Green Deal“ verspricht?

 

 

 

Anmerkungen

(1) Die englische Originalversion dieses Statements mit der vollständigen Liste der unterzeichnenden Organisationen ist zu finden unter www.s2bnetwork.org/eu-vietnam-68-civil-society-organisations-urge-meps-not-to-ratify-the-new-trade-and-investment-agreements. Zusätzlich zu dieser Initiative fordern einige vietnamesische und internationale NGOs das Europäische Parlament dazu auf, seine Abstimmung über das Abkommen zu verschieben: https://www.hrw.org/news/2019/11/04/joint-ngo-letter-eu-vietnam-free-trade-agreement.
(2) Der vollständige Text ist hier zu finden: http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1437.
(3) Zum Beispiel eröffnet Artikel 2.5.6 des Vietnam-Abkommens, der im CETA fehlt, eine neue Hintertür, die den Spielraum von Investoren, Klage einzureichen, beträchtlich erweitert. Ebenso bietet Artikel 2.5.4 des Vietnam-Abkommens einen größeren Spielraum als der entsprechende Artikel im CETA (hier Artikel 8.10.4). Einige der im CETA enthaltenen Sicherungen, wie zum Beispiel Artikel 8.10.7, fehlen in dem vorgeschlagenen Investitionsabkommen mit Vietnam.