Tagesordnung Fachtagung aktuell
Das exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands gerät unter Druck –
ökologisch, sozial und zunehmend auch politisch. Immer dringlicher stellt sich daher
die Frage, ob es sich fortsetzen lässt und wie es gegebenenfalls verändert werden
müsste.
Seit Jahren wird Deutschlands Wachstum durch hohe Handels- und
Leistungsbilanzüberschüsse gestützt. Um dieses Modell fortsetzen zu können, haben
sich vor allem die deutschen Bundesregierungen im Rahmen der EU und der
Welthandelsorganisation WTO für die weltweite Öffnung der Märkte durch
umfassende Handelsabkommen eingesetzt. Doch die von Deutschland forcierte
Liberalisierung des Welthandels birgt ökologische, soziale und politische Risiken, die
in den vergangenen Jahren teils noch zugenommen haben.
So sind geopolitische Herausforderungen hinzugekommen, die das exportorientierte
deutsche Wirtschaftsmodell in bisher ungekanntem Ausmaß in Frage stellen. Bereits
die Corona-Krise enthüllte die erhebliche Verwundbarkeit Deutschlands gegenüber
Unterbrechungen der Handelsströme und reißende Lieferketten. Der russische
Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichte die hohe Abhängigkeit von den
klimaschädlichen Erdgasimporten aus Russland, deren Ausfall die preisliche
Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft beeinträchtigte.
Die Wiederkehr aktiver Industriepolitik, wie sie in China schon länger betrieben wird
und auch in den USA mit dem Inflation Reduction Act Einzug gehalten hat, setzt das
deutsche Modell zusätzlich unter Druck. Je erfolgreicher China, die USA und andere
Länder ihre eigene Industrie stützen und modernisieren, umso geringer wird die
globale Nachfrage nach deutscher Technologie. Zudem sinkt diese Nachfrage auch
aufgrund der Investitionsschwäche deutscher Unternehmen, die zu technologischen
Rückständen in Bereichen wie der Digitalisierung, E-Mobilität und Batterietechnik
geführt hat. Ihr industrielles Angebot passt daher nur noch eingeschränkt zur
Auslandsnachfrage.
Die protektionistische US-Zollpolitik, die unter der ersten Trump-Regierung begonnen
und von Biden fortgesetzt wurde, dürfte dem deutschen Wirtschaftsmodell auch
künftig zusetzen. Denn Trump kündigte an, diese Politik noch zu verschärfen, vor
allem gegenüber Ländern, mit denen die USA ein Handelsdefizit haben. Darüber
hinaus droht er offen damit, Zölle auch als Druckmittel zu nutzen, um politische Ziele
in Bereichen wie Migration und Regulierung sozialer Netzwerke zu nutzen. Der
Zugang zum wichtigsten Exportmarkt der deutschen Industrie wird so immer
unberechenbarer. Die Risiken steigen noch dadurch, dass andere Industrie- und
Schwellenländer nun ebenfalls mit einer restriktiveren Außenhandelspolitik reagieren
könnten, um ihre Wirtschaft vor Handelsumlenkungseffekten zu schützen.
Ein Festhalten an der traditionellen Exportstrategie durch eine Kombination aus
neuen Freihandelsabkommen und gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit durch Kosten-
und Steuersenkungen scheint weder realistisch noch aus sozial-ökologischen
Gründen wünschenswert.
So tragen die wachsenden Warenströme in erheblichem Maße zu
existenzbedrohenden Umweltkrisen bei, vorneweg die Erderhitzung und der
Artenschwund. Bis zu einem Drittel der globalen Kohlendioxidemissionen und der
Entwaldung entfallen auf die Produktion für den Export. Auch ist die deutsche
Exportwirtschaft in starkem Maße von der Einfuhr von Rohstoffen und Vorleistungen
abhängig, bei deren Produktion es häufig zu Arbeits- und
Menschenrechtsverletzungen kommt.
Zwar wurden in Deutschland und der EU mittlerweile einige Initiativen für eine sozial-
ökologische Regulierung des Handels und entsprechende unternehmerische
Sorgfaltspflichten beschlossen, deren Umsetzung steht jedoch erst am Anfang. Wie
wirksam Maßnahmen wie die EU-Lieferkettenrichtlinie oder die
Entwaldungsverordnung angesichts der jüngsten Deregulierungsvorschläge auf
deutscher und europäischer Ebene sein werden, muss sich daher erst erweisen.
Noch jedenfalls sind Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen entlang der
vor- und nachgelagerten Lieferketten der deutschen Wirtschaft weit verbreitet.
Auch entwicklungspolitisch ist die Bilanz der von Deutschland durchgesetzten
Liberalisierung ernüchternd. Zwar konnten einzelne Länder des Globalen Südens
erfolgreich exportorientierte Entwicklungsstrategien umsetzen, ein nicht
unerheblicher Teil sieht sich jedoch zunehmend abgehängt, hat Weltmarktanteile
verloren, darunter viele afrikanische Länder. Nicht selten wurden lokale Betriebe
durch Marktöffnung verdrängt, während der forcierte Export von Cash Crops und
Rohstoffen Landkonflikte schürte und die Ernährungssicherheit gefährdete.
Hinzu kommt eine erhebliche Zunahme innerstaatlicher Einkommensdisparitäten, die
durch exportorientiertes Wachstum nicht verhindert, teils sogar verstärkt wurde.
Dieses Phänomen betrifft sowohl wirtschaftlich schwächere Länder als auch viele
Industriestaaten wie die Bundesrepublik. So wurden die deutschen Exporterfolge vor
dem Hintergrund einer hohen Einkommens- und Vermögensungleichheit erzielt.
Die schwindende Tarifbindung und die Durchsetzung eines großen
Niedriglohnsektors vergrößerten die preislichen Wettbewerbsvorteile der deutschen
Industrie, während die Ungleichheit im Inland wuchs. Die angebotspolitische
Stützung der Exportwirtschaft ging mit einer deutlichen Vernachlässigung der
Binnenwirtschaft einher, verschärft durch eine jahrelange Sparpolitik. Sichtbarer
Ausdruck dieses Missverhältnisses ist der erhebliche Investitionsstau in der
öffentlichen Daseinsvorsorge. Die zunehmende Ungleichheit und die verfallende
Infrastruktur führen dazu, dass sich wachsende Teile der Bevölkerung nicht mehr
repräsentiert fühlen und von der Demokratie abwenden.
Die Grenzen für das Wirtschaftsmodell Deutschlands treten insofern immer deutlicher
zutage. Doch die gesellschaftlichen Risiken dieser Entwicklung haben bisher noch
kaum zu adäquaten Reaktionen geführt. Dabei wird die Frage immer dringlicher, ob
sich das deutsche Modell einfach fortsetzen lässt, wie es dominante Kräfte in
Wirtschaft und Politik anstreben.
Je mehr aber die Zweifel daran zunehmen, desto größer wird auch der Bedarf an
Alternativen. Genau darüber möchten die einladenden Netzwerke in einen Dialog
eintreten.
Die beiden zentralen Fragen, die wir mit progressiven Institutionen und Verbänden im
Rahmen einer Fachtagung am 4. und 5. Juni 2025 in Berlin diskutieren möchten,
sind: Wie tragfähig ist das exportabhängige Wirtschaftsmodell Deutschlands noch
angesichts der Grenzen, mit denen es zunehmend konfrontiert ist? Und welche
Veränderungen wären gegebenenfalls erforderlich, um die sozialen, ökologischen
und entwicklungspolitischen Risiken der starken Exportorientierung einzudämmen?
Diese Fragen möchten wir mit Expert*innen aus der Wissenschaft, Gewerkschaften,
Unternehmen, Umwelt-, Entwicklungs-, Verbraucherorganisationen sowie der
Daseinsvorsorge diskutieren